Das keltische Erbe der Schweiz
VON Christine Praetorius Allgemein
Auf Münzen und Briefmarken wird die Schweiz „Helvetia“ genannt – eine gerechte Bezeichnung, weil sie keiner und daher jeder der vier Landessprachen zugehört. Die gleichnamige Frauenfigur, die die Schweiz versinnbildlicht, ziert die Ein-, Zwei- und Halb-Fränkler. Und jedes Schulkind lernt, dass das Autokennzeichen CH für „Confederatio Helveticorum“ steht.
Über die Helvetier bzw. das keltisch-helvetische Erbe der Schweiz wird in den Schulen jedoch wenig gelehrt und auch allgemein wenig berichtet. Dabei hat das geheimnisvolle Volk in der Schweiz viele interessante Spuren hinterlassen, die für Neugierige nicht schwer zu finden sind.
Ein halbvergessener Teil der Landeskindheit
Über das Leben und Wirken der alten Römer in der Schweiz gibt es jede Menge Bücher. Die Kelten hingegen waren (und sind) für Chronisten und Historiker bis heute eher ein Randthema. Vielleicht, weil es allzu leicht ist, dieses Volk, über dessen Herkunft man vergleichsweise wenig weiss und das sprichwörtlich aus dem Dunkeln kam, im Schatten der strahlenden, heroischen Römerzeit zu übersehen. Doch das haben die Kelten nicht verdient – einerseits, weil sie durchaus zu den frühen Hochkulturen zählen, und andererseits, weil kein Land einfach einen Teil seiner Kindheit verdrängen oder vergessen sollte.
Allerdings ist es auch nicht einfach, die Rätsel der Kelten zu lösen. Ihre Geschichte und Kultur lückenlos zu rekonstruieren und nachzuvollziehen ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, da die Kelten keine schriftlichen Aufzeichnungen für die Nachwelt hinterlassen haben. Aus kultischen Gründen vertrauten sie nur der mündlichen Überlieferung, so dass den Geschichtsforschern und Archäologen nichts anderes übrigbleibt, als Ausgrabungen nach bestem Wissen zu deuten und historische Quellen anderer Völker auszuwerten, die weniger schreibfaul waren.
Die Kelten waren kein einheitliches bzw. gemeinsam organisiertes Volk, sondern bestanden aus mehreren verschiedenen Stämmen. Von anderen Kulturen grenzten sie sich jedoch durch ihre gemeinsame Sprache ab. Wie die geklungen hat, ist leider ebenfalls nicht mehr präzise nachvollziehbar. Ungefähre Vorstellungen können aber einige alte und bis heute lebendige Sprachen vermitteln, die mit dem Keltischen verwandt sind. Dazu gehören das walisische Kymrisch, das schottische Gälisch, das Bretonisch der französischen Bretagne und nach Meinung etlicher Forscher auch das Schweizerische Rätoromanisch bzw. Bündnerromanisch. Es gibt sogar Theorien, laut denen die Ursprünge des alpenländischen Jodelns in der keltischen Musik liegen.
Zurück zu den keltischen Wurzeln
Durch verschiedene archäologische Funde bzw. Ausgrabungen der jüngeren Zeit fanden zumindest Teile des keltische Erbes einen Weg zurück ins Bewusstsein der modernen Schweiz. Zu den berühmtesten Ausgrabungen gehören die von La Tène am Neuenburgersee, die im Jahr 1857 begannen. Rund 2‘500 Fundstücke wurden dabei aus dem Wasser und der Erde ans Tageslicht geholt: hölzerne und eiserne Waffen, Werkzeuge, landwirtschaftliche Arbeitsgeräte, Geschirr, Schmuck und Münzen. Die Fundstätte wurde zum Namensgeber der Latène- oder La-Tène-Kultur.
Im Laténium, dem kantonalen archäologischen Museum des Kantons Neuenburg, werden neben keltischen auch steinzeitliche und mittelalterliche Artefakte ausgestellt. Das Museum liegt in Hauterive am Ufer des Neuenburger Sees. Die ehemals unter Wasser liegende Fundstelle wurde in den 1980er Jahren trockengelegt und zur Gänze ausgegraben. Heute ist dort ein archäologischer Park, in dem verschiedene Lebensräume und Siedlungsformen der letzten 15‘000 Jahre rekonstruiert wurden, unter anderem eine keltische Brücke.
Eine weitere Sensation war die Entdeckung des Goldschatzes von Erstfeld im Kanton Uri. Im Jahr 1962 sollte hier eine Lawinensperre angelegt werden. Bei den Erdarbeiten entdeckten zwei italienische Bauarbeiter mehrere goldene Schmuckstücke, die später den Kelten zugeordnet und auf das 4. Jahrhundert vor Christus datiert wurden. Insgesamt sieben schwere, aber sehr feine Goldschmiedearbeiten, vier Halsringe und drei Armringe aus bis zu 95 Prozent reinem Gold, wurden gefunden.
Der Schatz von Erstfeld gehört seither zur Ausstellung des Schweizerischen Landesmuseums in Zürich und gilt als bedeutendster Schweizer Keltenfund der Latènezeit. Es gibt jedoch bis heute auch Kritik an seiner nicht klar belegbaren Fundgeschichte und sogar Zweifel an Echtheit, Alter und Herkunft der Schmuckstücke. So hat dieser Schatz also möglicherweise noch ein weiteres Geheimnis, das schwer zu lüften ist.
Woher kamen die Schweizer Kelten?
Zu den keltisch-indoeuropäischen Stämmen der Schweiz zählen neben den Helvetiern des Mittellandes unter anderem die Bojer, die Rauracher oder Rauriker im Baselbiet und die Lepontier im Tessin. Um 400 v. Chr. stellte das Gebiet der heutigen Schweiz einen Brennpunkt der Expansion keltischer Stämme dar. Grosse Siedlungen oder Oppida entstanden an geschützten Standorten, z. B. in Flussschleifen oder auf Bergrücken. Um 100 v. Chr. gab es im Helvetiergebiet bereits etliche gut befestigte und wehrhafte Stadtanlagen, deren älteste und grösste sich auf der Engehalbinsel unterhalb von Bern befindet.
Über das Herkunftsland bzw. ursprüngliche Heimatgebiet der Kelten kann bis heute nur spekuliert werden. Es gibt Vermutungen, dass die keltische Kultur aus dem Kaukasus oder aus den Steppengebieten Südrusslands nach Mitteleuropa gekommen ist, aber das konnte bisher nicht klar nachgewiesen werden. Sicher ist jedoch, dass die Kelten nicht nur friedliche Landwirte waren, sondern ein kriegerisches Volk, das für seine Mobilität und Expansion schon früh Pferde nutzte und züchtete.
Ein wehrhaftes, reinliches und zivilisiertes Volk
Die Kelten waren als Krieger wild, stark und für ihre Feinde sehr furchteinflössend. Doch sie entsprachen nicht dem Klischee vom ungewaschenen Barbaren, sondern waren im Haushalt und täglichen Leben auf Ordnung und kultivierte Sauberkeit bedacht. Sie benutzten Seife und Spiegel und nutzten zusammenklappbare Rasiermesser, Scheren, Pinzetten, Steckkämme sowie Bleich- und Färbemittel zum Pflegen und Frisieren von Haupthaar und Bärten.
Keltische Könige bzw. Fürsten mussten den königlichen Sippen entstammen, doch die Königwürde wurde nicht vererbt, sondern durch Wahlen vergeben. Der Fürst war kein Richter, Gesetzgeber und Heerführer wie in anderen frühen Kulturen, sondern vor allem zuständig für Aussenpolitik, Diplomatie und die Zuteilung von Land an die verschiedenen Sippen. Jede Sippe umfasste mehrere Generationen und Familien sowie deren Leibeigene. Eine keltische Frau konnten sich ihren Ehegatten frei aussuchen, bei Streitigkeiten und wichtigen Entscheidungen mitbestimmen und als Tochter oder Witwe eines verstorbenen Fürsten dessen Nachfolge antreten.
Archäologische Funde haben gezeigt, dass die Kelten viel Sinn für feine Lebensart und Luxus hatten. Sie schätzten Zierrat, Parfum, erlesene Stoffe, Wein und Gewürze und trieben viel Handel, um aus fernen Ländern wie Ägypten die begehrten Güter oder exotische Zutaten zu importieren. Die bekannten Schlingen- und Knotenmuster der Kelten fanden sich auch auf zahlreichen Schmuck- und anderen Fundstücken der Latènezeit, die heute als Blütezeit der keltischen Kultur gesehen wird.
Auszug und Rückkehr der Schweizer Kelten
Um 390 v. Chr. überquerten Fürst Brennus und der Stamm der Bojer die Alpen. Drei Jahre später erreichten sie Rom, plünderten die ewige Stadt und richteten jede Menge Zerstörung an. Später mussten die Römer im Kampf mit den Kelten noch mehrere Niederlagen einstecken, zum Beispiel 107 v. Chr. bei Toulouse. Dort schlug der Stamm der Tiguriner, angeführt vom jungen Feldherrn Divico, das römische Heer – und liess die besiegten Soldaten anschliessend unter einem Joch durchlaufen, um sie zu demütigen. Diese Schmach hat Cäsar Divico nie verziehen und sich in späteren Schlachten bitter dafür gerächt.
Beim französischen Bibracte (nahe des heutigen Autun) wurden die Helvetier schliesslich vernichtend geschlagen. Tausende Kriegsgefangene verkaufte Cäsar als Sklaven, rund 110‘000 Überlebennde wurden zur Rückkehr in die Schweiz gezwungen. Doch der Untergang der keltischen Kultur lässt sich nicht auf Niederlagen im Krieg zurückführen, sondern vor allem auf die konsequente Ablehnung der Schriftkultur. Denn ohne diese lässt sich ein grosses Staatsgebilde nicht organisieren und darum letztlich auch nicht aufrechterhalten.
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