Zwischen heilig und historisch: der erste Bundesbrief

Seit seiner Einweihung vor 80 Jahren beherbergt das Bundesbriefmuseum in Schwyz den Bundesbrief von 1291. Heute gilt das Schriftstück nicht mehr als Gründungsurkunde der Eidgenossenschaft oder Nationalheiligtum.

Doch es erinnert an die Schweizer Befreiungstradition und stärkt die nationale Identität bis heute.

Ein kleines Schriftstück als Symbol für grosse Mythen

Der Bundesbrief von August 1291 ist der berühmteste und bedeutendste aller Bundesbriefe. Denn das rund zwanzig mal dreissig Zentimeter grosse Pergamentblatt mit den siebzehn lateinischen Zeilen wird in der populären und traditionellen Geschichtsschreibung gern als Gründungsurkunde der Eidgenossenschaft dargestellt.

Laut der legendären Befreiungstradition schlossen damals die Vertreter der Urkantone Schwyz, Uri und Unterwalden auf dem Rütli einen Bund gegen die tyrannischen Habsburger Vögte und besiegelten ihn mit einem feierlichen Schwur. In der Befreiungstradition, die mit dem Bundesschwur noch lange nicht zu Ende war, fliessen die grossen nationalen Mythen der Schweiz zusammen und bilden die Entstehungsgeschichte der Alten Eidgenossenschaft.


Die Rütliwiese (Bild: © Fedor Selivanov – shutterstock.com)

Die Schreckensherrschaft der Habsburger, die Sage von Wilhelm Tell, der Burgenbruch, die Schlacht von Morgarten und die Selbstopferung des Arnold von Winkelried bei der Schlacht von Sempach: All diese Elemente sind Teil einer Geschichtserzählung, die sich im Lauf des 15. Jahrhunderts immer fester im Nationalbewusstsein etablierte. Schon im 16. Jahrhundert vermischten sich die Sagen und Erzählungen. Sie wurden zudem immer weiter ausgebaut – und das führte unter anderem zu der verbreiteten Vorstellung, der Bundesschwur sei schriftlich fixiert und besiegelt worden.


Interpretation des Rütli-Schwurs. (Bild: © Wikimedia, GNU)

Geschichten verwandeln sich in Geschichte

Gegen 1470 wurden die Erzählungen der Gründungslegende und Befreiungstradition im „Weissen Buch von Sarnen“ aufgeschrieben. Da waren die ersten Geschichten immerhin schon fast zweihundert Jahre alt. Heute lässt sich kaum mehr nachvollziehen, wann und wie sie zu ihrer damaligen Form gefunden haben. Dass die Berichte im „Weissen Buch“ mit der Realität übereinstimmen, konnte selbst durch zahlreiche historiografische Studien und Versuche nicht eindeutig bewiesen werden. Es könnte also ebenso gut alles wahr sein wie alles frei erfunden – wobei in grossen Mythen meist auch ein grosses Korn Wahrheit steckt.

Aegidius Tschudi, der erste Schweizer Historiker, verfasste im 18. Jahrhundert das „Chronicon Helveticum“. Zuerst schrieb er alles von Hand auf und trug dazu jede Menge Schriftstücke und andere Quellen zusammen. Ab 1734 gab es seine Chronik der Eidgenossenschaft, zu der rund 700 Urkunden und Überlieferungen (unter anderem aus dem Weissen Buch von Sarnen) gehören, auch als Druckausgabe. Behandelt werden die Jahre 1000 bis 1470, also auch der Bundesschwur von 1291.


Der Bundesbrief von 1291 (Bild: © Wikimedia, GNU)

Für Tschudi waren Walter Fürst von Uri, Werner Stauffacher von Schwyz und Arnold von Melchtal aus Unterwalden (oder Nidwalden) die Drei Eidgenossen, und Wilhelm Tell war auf dem Rütli gar nicht dabei. Die heute im Bundesbriefmuseum verwahrte Urkunde wurde auf das Jahr 1291 datiert und zum Gründungsdokument erhoben. Seither werden die drei Vertreter der Urkantone oft mit einem Schriftstück dargestellt, das sie hochhalten oder zu dem sie unter einem stürmischen Himmel emporblicken – ein schönes Standbild aus dem grossen Kino der Geschichte.

Egal, wie genau sich die ersten Eidgenossen damals verhalten und ihre Geschichten sich abgespielt haben: Aus ihnen gingen die nationale Identität und die staatsideologischen Leitbilder der Schweiz hervor, und die wirken und tragen bis heute. Darum beschäftigt sich die moderne Forschung auch nicht mehr ernsthaft mit dem Versuch, den Wahrheitsgehalt von Legenden wissenschaftlich zu sondieren, sondern untersucht lieber deren politische Funktionen vor den Hintergründen ihrer Zeiten.

Ein Nationaldenkmal im Urkanton Schwyz

Im Bundesbriefmuseum (früher Bundesbriefarchiv) der Gemeinde Schwyz ist der Bundesbrief von 1291 das Hauptexponat. Bevor das Museum 1936 eingeweiht wurde, lag das sagenhafte Gründungsdokument im Schwyzer Archivturm. Es ist gut erhalten, nur das Schwyzer Siegel ist zwischen 1330 und 1920 irgendwo verlorengegangen. Ausser diesem und allen weiteren früheidgenössischen Bundesbriefen gehören mittelalterliche Urkunden aus der Zeit bis ins 16. Jahrhundert sowie historische Banner zur ständigen Ausstellung.


Das Bundesbriefmuseum (Bild: © www.f64.ch, Wikimedia, CC BY-SA 3.0)

Heute ist das Bundesbriefmuseum ein modernes Museum, eines von drei historischen Museen in Schwyz. Doch ursprünglich sollte es eine Art Kathedrale sein, geschaffen für ein Schriftstück, das als Nationalheiligtum bewahrt und dementsprechend verehrt wurde. So wollte es auch der Architekt Josef Beeler, der Ende 1933 den Auftrag bekam, das Museum sozusagen um den ersten Bundesbrief herum zu bauen – in einer Zeit, in der die Sehnsucht nach Heiligtümern allgegenwärtig war.

Als Antwort auf die Krisen der 1930er Jahre und das immer unsicherer werdende Lebensgefühl in Europa war in der Schweiz die „Geistige Landesverteidigung“ entstanden. Die leidenschaftliche Rückbesinnung auf alles Schweizerische und die alten Schweizer Werte – Unabhängigkeit, Freiheitsdrang, Demokratie und kulturelle Vielfalt. Das alles verkörperte der erste Bundesbrief perfekt, dessen damalige Vitrine im Ausstellungssaal daher „Altar des Vaterlandes“ genannt wurde.



Spätestens seit dem Ende der 1960er Jahre, als kräftig an allen Sockeln gerüttelt wurde und so mancher Altar ins Wanken geriet, hat der Bundesbrief seinen Status als Nationalheiligtum und offizielle Gründungsurkunde der Eidgenossenschaft verloren. Im Jahr 1979 wurde die Ausstellung des Bundesbriefmuseums von Grund auf erneuert, und das symbolträchtige Dokument musste seinen Altar verlassen und sich zu anderen Urkunden in eine normale Ringvitrine legen lassen. Zwar stehen Besucher auch heute noch andächtig davor, doch diese Ehrfurcht soll eingebettet sein in einen grösseren Kontext: Den Umgang mit der nationalen Identität und Geschichte, die das Land nur prägen kann, weil sie letztlich jeden Einzelnen betrifft.

 

Artikelbild: © tauav – fotolia.com

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Mehr zu Christine Praetorius

Christine Praetorius, Jahrgang 1971, spricht und schreibt über Neues, Altes, Schönes und Kurioses. Ich liebe Sprache und Musik als die grössten von Menschen für Menschen gemachten Freuden – und bleibe gerne länger wach, um ihnen noch etwas hinzuzufügen. Seit 2012 arbeite ich mit meinem Mann Christian als freie Texterin, Autorin und Lektorin.

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