Älteste Schweizer Seilbahn hat letzte Fahrt hinter sich

In der Schweiz gibt es jede Menge aktiver Seil- und Bergbahnen. Und wenn ein schönes historisches Bähnli seine letzte Fahrt antreten muss, ist das im Land der Seilbahnromantiker immer ein trauriges Ereignis.

Am 25. Oktober 2015 wurde der Betrieb der historischen Seilbahn Naraus-Cassonsgrat eingestellt; in diesem Jahr soll die Anlage abgebaut werden. Von allen eidgenössisch konzessionierten Pendel-Luftseilbahnen hatte die Cassonsbahn die älteste Bausubstanz – und wahrscheinlich werden zumindest Teile davon erhalten bleiben.

Lage und Geschichte der Cassonsbahn

Der Kurort Flims im Bündner Oberland war schon im 19. Jahrhundert ein angesagtes Ferienziel. Er liegt auf einer natürlichen Sonnenterrasse am Fuss der Bergkette Piz Vorab‑Piz Segnes. Hier fühlte sich sogar Friedrich Nietzsche rundum wohl, als er im Sommer 1873 einen Monat lang im Segnes weilte, im Caumasee badete, heilsame Molke trank und zu Füssen der majestätischen Dreitausender seine komplizierte Seele baumeln liess.

Jahrzehntelang blieb der Sommer für Flimser Gastgeber und Touristen die Hauptsaison. Doch die grossartigen Möglichkeiten für Wintersportler waren offensichtlich. Mutige Hotelbesitzer installierten bereits vor dem zweiten Weltkrieg Zentralheizungen, um Wintertouristen anzulocken und angemessen zu beherbergen. Ab 1939 konnten Skifahrer hier die erste mechanische Aufstieghilfe der Schweiz nutzen – einen Motorschlittenzug mit zwei Anhängern, die von einem Hürlimann-Raupentraktor gezogen wurden. Sogar an den Komfort während der Bergfahrt hatten die Ingenieure gedacht und die Anhänger mit Fussheizungen ausgestattet, die von den Traktorabgasen mit Wärme versorgt wurden.

Am 16. Dezember 1945 wurde eine von Holzmasten getragene Sesselbahn von Flims nach Foppa eröffnet – die erste kuppelbare Sesselbahn der Welt. Sie wurde schon im Folgejahr um eine zweite Sektion erweitert, um Touristen bis zur Alp Naraus befördern zu können. Als nächstes lag es nahe, von einer Fortsetzung der Bergbahn bis zum Cassonsgrat zu träumen. Doch bis zum Baubeginn sollte es noch eine Weile dauern: Erst im Juni 1955 begannen die Bauarbeiten an der Pendel-Luftseilbahn Naraus-Cassonsgrat, deren krönender Abschluss, die Eröffnungsfeier am 26. Oktober 1956, bei extrem schlechter Sicht und wildem Schneetreiben stattfand.


Der Cassonsgrat (Bild: © Caumasee, Wikimedia, CC BY-SA 3.0)

Die Cassonsbahn wurde seither oft überholt und immer wieder den aktuellen Sicherheitsbestimmungen angepasst. Trotzdem behielt sie ihre ursprüngliche Substanz und ihr nostalgisches Aussehen. Auch der Schweizer Heimatschutz konnte ihrem Charme nicht widerstehen und nahm das rote Wirtschaftswunder-Bähnli mit den zwei kleinen 25er-Gondeln in seine Broschüre „Die schönsten Verkehrsmittel der Schweiz“ auf. Denn die historische Seilbahn ist nicht nur für sich gesehen schön, sondern besonders reizvoll und sanft in Natur und Landschaft eingebettet. Ausserdem erschliesst die einen buchstäblich erhebenden Blick in die Weite und einen Aussichtspunkt auf die Bündner Gipfel, der seinesgleichen sucht.

Der alte Konflikt zwischen Denkmalschutz und Tourismus

Natürlich gibt es genug Menschen, denen an einem Weiterbetrieb der alten Bergbahnen von Foppa nach Naraus und von Naraus nach Cassons gelegen ist. Das moderne Neubauprojekt der Weisse Arena-Gruppe ist bei der Flimser Bevölkerung umstritten. Vielen wäre eine Sanierung oder ein Neubau der Original-Luftseilbahn von 1956 lieber. Eine Hightech-Seilbahn, womöglich mit Grossraumkabinen wie die auf Crap Sogn Gion, könnte sich in die unverbaute Natur der Flimser Region längst nicht so schön einfügen.

Doch neben denkmalschützerischen Erwägungen gibt es handfeste Sachzwänge: Die touristischen Angebote dürfen weder gestört noch gemindert werden. Und tatsächlich ist die alte Bahn am Ende ihrer Technik und Mechanik angelangt, weshalb etliche Fachleute zwischen Sanierung und Neubau bereits keinen Unterschied mehr sehen. Zudem kann die Talstation weder völlig erneuert noch ausgebaut werden, da sie im Lawinenschutzgebiet steht.


Martinsloch (Bild: © Martin Lehmann – shutterstock.com)

Dass sich die Weisse Arena nun erst einmal durchgesetzt hat und der Betrieb der Cassonsbahn eingestellt wurde, mindert das Angebot für Touristen allerdings bereits erheblich. Denn nun führt kein Weg mehr zur Glarner Hauptüberschiebung, die mit dem Martinsloch und den Tschingelhörnern seit 2008 als „Tektonikarena Sardona“ zum UNESCO‑Weltnaturerbe gehört.

Flimser Naturwunder nur noch zu Fuss erreichbar

Zum Weltnaturerbe wurde die Glarner Hauptüberschiebung deswegen, weil man laut UNESCO hier sehen könne, „wie die Berge entstanden sind“. Das ist eine touristische Attraktion, die viel Werbung für Flims machte und von Flims auch viel beworben wird. Nun kann ein wichtiger Teil des bisherigen Werbeversprechens, die leichte Erreichbarkeit der Naturwunder mit der Cassonsbahn, nicht mehr gehalten werden.

Vor der Stillegung der Bahn war das Martinsloch, durch das zweimal im Jahr die Sonnenstrahlen auf die Elmer Kirche fallen, nach einer halbstündigen Wanderung zu sehen. Etwa dreimal so lange musste man wandern, um unterhalb des Martinslochs oder auf dem Segnespass zu stehen. In der Wandersaison 2016 wird das viel schwieriger werden: Ohne das Bähnli müssen Wanderer von Naraus aus starten und 800 Höhenmeter mehr zu Fuss überwinden. Das dürfte viele ungeübte Fussgänger und auch Familien mit Kindern gleich wieder von dieser Idee abbringen.

Wie geht es in Zukunft auf den Cassonsgrat?

Die Befürworter der Cassonsbahn sehen zwei Möglichkeiten zu ihrer Rettung: Der Verein Pro Cassons will die historische Bahn entweder sanieren oder an ihrer alten Stelle neu bauen. Die Sanierung würde 7 Millionen Franken kosten, der Neubau doppelt so viel. Eine Million Franken an Spendengeldern konnte der Verein bereits sammeln – davon könnte er der Bergbahn zumindest ein neues Tragseil spendieren.



Dagegen plant Reto Gurtner, der VR-Präsident der Weissen Arena-Gruppe, den Bau einer neuen Seilbahn, die westlich vom Cassonsgrat und etwa 180 Höhenmeter darunter endet und gar nicht mehr bis auf den Grat hinaufführt. Im September 2015 hat die Flimser Gemeindeversammlung einem Planungskredit in Höhe von 850‘000 Franken zugestimmt. Doch wie auch immer es mit der Cassonsbahn weitergeht: Vor dem Jahr 2019 rechnet niemand der Beteiligten mit einer neuen Eröffnungsfeier.

 

Artikelbild: Symbolbild © l i g h t p o e t – shutterstock.com

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Mehr zu Christine Praetorius

Christine Praetorius, Jahrgang 1971, spricht und schreibt über Neues, Altes, Schönes und Kurioses. Ich liebe Sprache und Musik als die grössten von Menschen für Menschen gemachten Freuden – und bleibe gerne länger wach, um ihnen noch etwas hinzuzufügen. Seit 2012 arbeite ich mit meinem Mann Christian als freie Texterin, Autorin und Lektorin.

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