Prähistorische Pfahlbauten in der Schweiz

Im Alpenraum fanden Archäologen bis heute fast 1000 Orte mit prähistorischen Pfahlbauten aus dem Zeitraum von 5000 bis 500 vor Christus – unter Wasser, an Ufern von Seen und Flüssen sowie in Feuchtgebieten. 111 dieser Siedlungen wurden 2011 in die Liste des UNESCO Weltkulturerbes aufgenommen. Die 56 Stätten in der Schweiz verteilen sich auf 15 Kantone, die übrigen befinden sich in Deutschland, Frankreich, Österreich, Italien und Slowenien.

Für die Erforschung der Lebensbedingungen früher Bauern in Europa sind diese Zeugnisse von unschätzbarem Wert, lassen sich an ihnen doch die Landwirtschaft, Viehzucht, technische Neuerungen und das Alltagsleben aus jener Zeit studieren. Die besonderen Erhaltungsbedingungen der Pfahlbauten haben viele organische Materialien wie Holz, Knochen, pflanzliche Überreste und Textilien in gutem Zustand überstehen lassen.

Zusammen mit modernen, genauen Datierungsmöglichkeiten, etwa der Dendrochronologie, können die Siedlungen und ihre räumliche Ausdehnung oder Schrumpfung über lange Zeiträume analysiert werden. Moderne Methoden der Unterwassertechnologie, Wasserbotanik und -zoologie tragen ebenfalls einen grossen Teil zu den umfassenden Kenntnissen über diese frühen Agrargesellschaften in Europa bei. Aus diesem Grund sind Pfahlbauten die wichtigsten Quellen archäologischer Forschung zum Thema Prähistorie und stehen zu Recht weit oben auf der Rangliste der Denkmalpflege.

Angefangen hat alles im Frühling 1855. Bei Landgewinnungsarbeiten fand der Altertumsexperte Ferdinand Keller die ersten Reste von Pfahlbauten an der Fundstelle in Meilen-Rohrenhaab. Dort hatten Gruppen von höchstwahrscheinlich keltischer Abstammung am seichten Ufer ihre Häuser auf Pfählen errichtet. Sie lebten von Fischfang, Jagd und Feldbau.


Pfahlbausiedlung beim Bahnhof von Wauwil (Bild: Roland Zumbuehl, WIkimedia, CC)


Am Zürichsee erforschte Keller später weitere wichtige Fundstellen, die überwiegend der Horgener Kultur zuzurechnen sind, darunter Grosser und Kleiner Haffner sowie Alpenquai. Am oberen Zürichsee befinden sich zwischen Hurden und Rapperswil die Stätten Freienbach-Hurden-Rosshorn, Seefeld, Seegubel und Rapperswil-Jona-Technikum, die in ihrer Art weltweit einmalig sind. Bereits zu Kellers Zeiten stiessen die Entdeckungen auf dem ganzen Kontinent auf ein starkes Interesse. Nach der Schweiz stiessen Archäologen in mehreren Ländern auf Zeugnisse von Pfahlbau-Kulturen, vor allem und am meisten allerdings im Alpenraum.

Die Funde bescherten der Altertumsforschung, die bis dahin anhand von Gräbern, militärischen Anlagen und Waffen hauptsächlich Informationen über den Tod herausgefunden hatten, erstmals einen Zugang zum alltäglichen Leben in dem bereits erwähnten Zeitraum zwischen 5000 und 500 vor Christus. Anfangs bestanden die Siedlungen aus fünf bis zehn Häusern, in denen weniger als 50 Menschen lebten. Zur Bronzezeit waren die Dörfer schon auf bis zu 50 Häusern mit mehreren Hundert Menschen angewachsen.

Sie züchteten Kühe, Schafe und Schweine, bauten Getreide an, fischten und sammelten Früchte und Kräuter in den Wäldern. Funde von Holz- und Steinwerkzeugen, Schuhen, Kleidung, Schmuck, Keramik, belegen die handwerklichen Fähigkeiten der damaligen Pfahlbauer. Die wirtschaftlichen, sozialen und technischen Gegebenheiten der Ära sind bekannt. Ein Geheimnis bleiben allerdings weiterhin die Sprache, Kultur und etwaige Rituale.


Pfahlbausiedlung Village Lacustre Gletterens (Bild: Roland Zumbuehl, Wikimedia, CC)


Obwohl die meisten Fundstellen unsichtbar auf den Böden von Gewässern oder im Sand von Uferbereichen liegen, kann die Forschung ein sehr präzises Bild über die mehr als viertausendjährige Entwicklung von Landwirtschaft und Metallverarbeitung liefern, eine der wesentlichsten Epochen in der jüngeren Menschheitsgeschichte.

Denn in diesem Zeitraum entstanden die Vorläufer moderner Gesellschaften. Das Quellenmaterial bietet reichhaltige Belege, anhand derer die Baupläne von Dörfern und bautechnische Details rekonstruiert werden konnten. Darüber hinaus geben sie Aufschluss über Handelswege von Gold, Bernstein, Silex, Tongefässen und Muscheln sowie die benutzten Transportmittel, etwa Holzräder und Einbäume.

Die Räder stammen aus der Zeit um 3400 vor Christus, sind teilweise komplett erhalten und zeigen auch die Achsen zweirädriger Holzkarren. Ausserdem wurden die ältesten textilen Reste in Europa in Pfahlbausiedlungen sicher gestellt (um 3000 vor Christus). Die vielen kleinen Puzzlestücke ergeben ein ziemlich genaues Bild davon, wie die etwa 30 verschiedenen Kulturen jener Epoche in den feuchten Alpinlandschaften gelebt und gewohnt haben.

Konservierung und Dokumentation der physischen Überbleibsel sind hervorragend gelungen. Strukturen, Materialien und Substanz der Funde sind im Wasser und im Boden authentisch geblieben. Diese erstaunliche Tatsache ermöglicht den Archäologen und Experten der Denkmalpflege genaue Schlussfolgerungen über Zweck, Funktion und Nutzung der einzelnen Fundstätten.


Im Inneren eines Pfahlbaus, Village Lacustre Gletterens (Bild: Roland Zumbuehl, Wikimedia, CC)


Hinzu kommt die reibungslose Kooperation auf internationaler Ebene in den Bereichen Forschung und Koordination. Aus diesen Gründen konnte das Leben der frühzeitlichen Bauern, Züchter und Fischer so detailgetreu aufgezeichnet werden, wie es bisher in keiner anderen Region der Welt möglich war. Die Ergebnisse tragen dazu bei, ein wichtiges fehlendes Glied zwischen prähistorischen Jägern und Sammlern auf der einen und den ersten europäischen Grosszivilisationen auf der anderen Seite zu rekonstruieren.

In den sechs Ländern, deren Pfahlbauten sich auf der Liste des UNESCO Welterbes befinden, stehen diese unter dem gesetzlichen Schutz der Denkmalpflege. Die jeweiligen staatlichen Behörden und Institutionen bewirtschaften die Projekte gemeinsam mit den lokalen Einrichtungen in jedem Land. Über ein international besetztes Gremium arbeiten alle nationalen Systeme zusammen, um die Ziele und geplanten Aktionen auf sämtlichen Ebenen abzustimmen und zu erreichen.

 

Oberstes Bild: Nachbau von Häusern aus der Bronzezeit auf der Landiwiese (Bild: Adrian Michael, Wikimedia, CC)

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Mehr zu Ulrich Beck

hat Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert und ist zusätzlich ausgebildeter Mediendesigner im Segment Druck. Er schreibt seit über 30 Jahren belletristische Texte und seit rund zwei Jahrzehnten für Auftraggeber aus den unterschiedlichsten Branchen.

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