Denkmalpflege für ein provokantes Bauwerk der Moderne - Reformierte Kirche in Effretikon
Die Planung der Kirche stammt von dem bekannten Zürcher Architekten Ernst Gisel, errichtet wurde sie zwischen 1959 und 1961. Sie liegt auf einem kleinen Hügel, dem Rebbuck, in direkter Nachbarschaft zum verkehrstechnisch bedeutenden Bahnhof. Während sich der eigentliche Kirchenbau noch relativ harmonisch in das Gelände einfügt, ragt der frei stehende Glockenturm unbekümmert und forsch in den Himmel – um nicht zu sagen: provozierend. Genauso wurde er damals in der Gemeinde aufgenommen: als ungeheure Provokation, die zu erbitterten und Jahrzehnte währenden Streitigkeiten führte.
In der Wachstumsphase der 1950er Jahre stieg die Bevölkerungszahl in Effretikon, nicht zuletzt durch die Nähe zu Zürich, in kurzer Zeit um ein Vielfaches. Ähnlich verhielt es sich mit der baulichen Entwicklung. Das Bauerndorf wuchs zu einer kleinen Stadt heran. Daraus resultierte am Ende der Entschluss, in dem Ort eine reformierte Kirche zu bauen, die nicht nur als Gotteshaus für die zugezogenen Gläubigen dienen, sondern auch architektonisch ein Zeichen setzen sollte. Als Ernst Gisel im Jahr 1957 den Zuschlag erhielt, war die Planung für den Turm noch nicht abgeschlossen. Den endgültigen Entwurf mit der abgeschrägten Spitze präsentierte der Architekt der kirchlichen Baukommission erst im Mai 1960, nachdem die Bauarbeiten schon im Gange waren.
Nach der Fertigstellung brach ein heftiger Streit aus, unter den Bürgern, aber auch zwischen Bauherr und Architekt. Die Kirchengemeinde wollte die Turmspitze abreissen und neu bauen. Gisel (und andere Kollegen aus der Zunft) protestierte heftig dagegen und berief sich auf sein Urheberrecht als Schöpfer. Die Kirche lenkte schliesslich ein, allerdings nur, weil sie den drohenden Gerichtsprozess und die hohen Kosten für einen Umbau scheute. Einen kleinen „Akt der Rache“ liess sie sich trotzdem nicht nehmen: Der Hahn, den der Eisenbildhauer Silvio Mattioli eigens für den Turm geschaffen hatte, wurde entfernt, in einem Keller zwischengelagert und später an einen Kunstsammler verkauft.
Auf Grund der Streitigkeiten um die „Seelenabschussrampe“, wie der – übrigens öffentlich begehbare – Turm verächtlich genannt wurde, gab es auch kein Fest zur Eröffnung, lediglich einen Einweihungsgottesdienst Anfang Juli 1961. Obwohl die reformierte Kirche Effretikon vor allem von aussen hochgelobt wurde und weit über die Grenzen hinaus Beachtung fand, blieb das Thema im Ort selbst ein Tabu. Auch zum 25-jährigen Jubiläum in 1986 gab es keine Feier. Laut Pfarrer Corsin Baumann, der bereits seit 1980 in der Gemeinde arbeitet, sollten keine alten Wunden aufgerissen werden.
Weitere acht Jahre später, 1994, entschied sich die Kirche für die Erweiterung des Gebäudes um einen Gemeindesaal, der eigentlich von Anfang an vorgesehen war. Als Architekt sollte wiederum Ernst Gisel fungieren. Und wieder kam es zu turbulenten Szenen, berichten Zeugen, die bei der entscheidenden Versammlung anwesend waren. Der damalige Pfarrer Markus Brunner betont allerdings, der erneute Streit wäre wegen der hohen Umbaukosten entstanden.
Mittlerweile sind die tiefen Gräben allerdings überwunden. Der Rebbuck ist, wie es anfangs geplant war, dicht mit Bäumen bewachsen. Aus der Entfernung ist von der Kirche fast nur noch der Glockenturm zu sehen. Man hat sich aber nicht nur abgefunden mit der Kirchenarchitektur. Viele haben sie ins Herz geschlossen und sehen sie als Zeichen des Aufbruchs, den Effretikon seit den 1950er Jahren hinter sich hat. Bestes Beispiel dafür ist wohl das 50-jährige Jubiläum, das endlich mit einer Feier begangen wurde. Der eiserne Hahn von Silvio Mattioli feierte in Anwesenheit des Architekten seine Rückkehr auf das Dach des Kirchturms – ein Punktsieg für die Denkmalpflege.
Im Werk von Ernst Gisel stellt die Kirche in Effretikon ein Schlüsselprojekt und einen der Höhepunkte seines Schaffens dar. Zu dem damaligen Streit äusserte er sich ein mal lapidar mit den Worten, dort wäre „die Opposition um einiges grösser“ gewesen „als bei anderen Projekten“. Eine gewisse Komik entbehrt auch nicht Gisels Aussage über das besondere Engagement einiger Ortsbürger. So seien einerseits die Glocken aus der Giesserei Rüetschi vom Besitzer eines Saumastbetriebes gestiftet worden, andererseits habe der „beste Steuerzahler“ ein Architekturbüro für den Umbau der Turmspitze beauftragt und aus eigener Tasche bezahlt.
Ausführlichere Informationen und weitere Fotos zur Geschichte und Architektur finden sich in dem Band „Reformierte Kirche Effretikon“ von Michael Hanak, erschienen im Oktober 2013 in der Reihe „Kleine Schriften zur Zürcher Denkmalpflege“, Heft 11. Die Reihe aus dem Hause der Kantonalen Denkmalpflege erscheint seit 1998. Mit dem Band von Michael Hanak widmet sie sich zum ersten Mal ausführlich einem Bau aus der Nachkriegszeit.
Oberstes Bild: Reformierte Kirche, Rebbuckstrasse in Effretikon. (Urheber: Roland zh / Wiki / Lizenz: CC)